Demenz

Hier ein Beitrag zu Pharmamas Blogparade!

Diesen Vorfall hatte ich schon einmal irgendwann gebloggt, aber das Thema ist leider immer aktuell. In einer Talkshow habe ich kürzlich wieder einmal daran gedacht, als Reinhard May über etwas ähnliches sprach, also werde ich es noch einmal aufgreifen. Für alle die meinen Blog noch nicht kennen – ich bin PTA in einer deutschen Apotheke und blogge täglich seit über einem Jahr.

Eines kühlen Tages – ich war zu dem Zeitpunkt in einer Apotheke an der Peripherie einer großen Stadt beschäftigt – kam eine Dame in die Apotheke. Sie war gut 80 Jahre alt, gepflegt, und keine uns bekannte Kundin. Als sie an der Reihe war bedient zu werden, sprach ich sie freundlich an und fragte nach ihren Wünschen. Sie sah mich lange an, seufzte ein wenig und sagte

„Ach wissen Sie junge Dame, Sie können mir doch nicht helfen.“

Dann wollte sie sich umdrehen und gehen. Irgendwas sagte mir, dass das keine gute Idee ist, und ich ging um den Verkaufstresen herum und berührte sie an der Schulter.

Möchten Sie sich einen Moment hinsetzen, sie sehen müde aus.“

Wieder blickte sie mich lange an.

„Danke schön. Ich bin wirklich sehr erschöpft. Kennen Sie mich?“

Jetzt wurde ich noch hellhöriger!

Nein, ich kenne Sie nicht. Darf ich fragen wie Sie heißen?“

„Ich heiße… ähm… ich heiße… ach… glauben Sie das? Es fällt mir jetzt gar nicht ein! Ich bin ganz aufgeregt!“

Bleiben Sie ruhig, es ist in Ordnung. Ich bringe ihnen erst einmal ein Glas Wasser, dann fällt es Ihnen sicher wieder ein, ja?“

„Ja. Danke. Aber dann muss ich gleich wieder los nach Hause! Mein Mann kommt ja heute abend von der Arbeit und ich habe noch nicht gekocht!“

Jetzt wurde immer deutlicher, was ich unterbewusst von Beginn an gespürt hatte. Die Dame war dement, und wusste weder wie sie heißt, noch höchstwahrscheinlich wo sie wohnt. Ich konnte sie auch nicht viel länger bei uns „festhalten“, denn sie wurde sichtbar unruhig. Ich hatte eine Chance – wenn sie aus dem nahen Pflegeheim kommen sollte, dann wäre ihr Name vermutlich am Etikett ihres dünnen Jäckchens eingenäht. Als ich ihr das Wasser brachte, fragte ich sie, ob sie nicht die Jacke ausziehen möchte so lange sie sich noch ausruht, damit sie nicht so schwitzt – und Bingo. Sie reichte sie mir herüber und ich erhaschte einen schnellen Blick auf den Einnäher. „Kaiser, Leonore“ stand da und „Haus Waldesruh“. Ich sprach sie gleich mit Namen an

Ach, sind sie nicht Frau Kaiser? Soll ich sie nach Hause begleiten?“

„Oh ja! Genau! Leonore Kaiser heiße ich! Und – würden Sie das machen? Das wäre wirklich nett von ihnen!“

Das „Haus Waldesruh“ war nur wenige Straßen entfernt, also sagte ich Frau Kaiser, dass ich nur noch schnell meine Jacke holen gehe, und verschwand im hinteren Bereich der Apotheke um schnell dort anzurufen. Die Pfleger auf Station 3 waren sehr erleichtert, denn sie hatten schon überall nach Frau Kaiser gesucht. Ich vereinbarte, dass ich mit ihr ins Pflegeheim laufe, und mir eine Pflegerin entgegen kommt, die sie in Empfang nimmt. Es klappte zum Glück alles gut, und ich bin abends wirklich selten so erleichtert in den Feierabend gegangen. Sie tat mir schrecklich leid, und mit ihr alle Menschen in der gleichen Situation. Nicht mehr zu wissen wer man ist, wie man heißt und wo man wohnt – es gibt wenig schlimmeres. Oft wissen die demenzkranken Menschen gar nichts mehr, außer dass sie einmal ein Zuhause hatten in dem sie glücklich waren. Wo sich dieses Zuhause befindet ist ihnen schleierhaft, aber dass das Pflegeheim das NICHT ist, das ist ihnen bewusst. Also laufen sie weg, in der Hoffnung dass sie sich, sobald sie sich auf der Straße befinden, schon wieder daran erinnern werden. Diese Menschen steuern dann oft entweder Punkte an, von denen aus sie weiter kommen könnten – Bus-  oder Straßenbahnhaltestellen gehören zum Beispiel dazu. Auch Apotheken werden gerne aufgesucht, denn das rote A ist ihnen irgendwie bekannt und wird mit freundlichen Menschen und Hilfe in Verbindung gebracht. Was war es nun, was mich dazu gebracht hat aufmerksam zu werden, warum habe ich sie zu Beginn des Gespräches nicht einfach gehen lassen? Erstens war sie für die Jahreszeit einfach zu dünn angezogen, wie jemand der nur mal kurz vor die Tür geht um die Zeitung zu holen. Und zweitens hatte sie keine Tasche bei sich. Einen Schlüssel oder ein Portemonnaie hätte sie also in der Hand halten müssen, die waren aber leer. Die Schuhe sahen auch eher nach Hausschuhen aus. Alles in allem also eine Situation, in der die Alarmglocken angehen. Zum Glück haben die Apotheken in der Bevölkerung einen so guten Ruf, und die Mitarbeiter genießen ein hohes Maß an Vertrauen. Nur so lässt es sich erklären, dass immer wieder verwirrte Menschen bei uns Schutz suchen und auch bekommen. Allen Mitlesern lege ich ans Herz, mit offenen Augen durch die Welt zu gehen, und lieber einmal „umsonst“ jemanden anzusprechen, der seit einer Stunde an der Bushaltestelle sitzt. Es könnte eure Oma sein…

Über ptachen

PTA mit Leib und Seele.
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15 Antworten zu Demenz

  1. Pingback: Blogparade: Ohne Apotheke*r fehlt dir was | Alzheimerblog's Blog

  2. PMK74 schreibt:

    Toller Beitrag zu diesem Thema.
    Und gut reagiert in diesem Fall. Demenz ist durch die steigende Lebenserwartung ein immer häufiger werdendes Krankheitsbild. Und der Umgang damit ist für alle Betroffenen und deren Umfeld nicht einfach.

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  3. ednong schreibt:

    Ja, ich glaube auch, Demenz muß einfach schrecklich sein. Vorher hast du noch soviel gewußt – und das weißt du noch (zumindest am Anfang). Dir ist also bewußt, dass dir Wissen fehlt. Schrecklich. Und ganz zum Schluß weißt du dann wahrscheinlich irgendwie gar nichts mehr.

    Und auch die Mitmenschen wissen ja in der Regel gar nicht, wie sie mit sowas umgehen sollen. Ich glaube, da wäre Forschung und dann ein Medi wirklich gut …

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  4. Deli schreibt:

    Demenz ist eine schlimme Sache. Mein Vater hat die Diagnose seit etwa einem Jahr, mit gerade einmal Anfang 60…
    Eine Frage dazu an dich – und andere Apothekenmitarbeiter:
    Er ist Arzt und hat auch noch seinen Arztausweis. Er kriegt teilweise noch mit, dass sein Hirn nicht mehr richtig funktioniert, das macht natürlich Angst und frustriert.
    Er hat es jetzt einmal gebracht, dass er -mit Arztausweis- in die Apotheke marschierte und Zyankali verlangte (natürlich nicht dort vorrätig). Das hat meine Mutter noch rechtzeitig mitbekommen…aber Frage an die Apothekenmitarbeiter: Wie reagiert ihr auf solche Anfragen?

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    • Aponette schreibt:

      Selbst mit Arztausweis bekommt von mir keiner Zyankali – was wir zudem gar nicht mehr im Labor haben. Es ist außer zum Mord/Selbstmord zu nichts zu gebrauchen – aus pharmazeutischer Sicht.
      Da fallen mir einige andere Mittelchen ein, die viel unverdächtiger und genauso „wirksam“ sind als ausgerechnet Blausäure. In Deinem Falle würde ich eventuell alle Apotheken der Umgebung darüber informieren, dass sie bei Anfragen von Dr. Deli-Papa sich darauf berufen, dass sie zwingend ein Rezept brauchen (rechtlich völlig korrekt btw!) und bei den bedenklichen Dingen vielleicht erst bei jemanden nachfragen. Falls er immer noch Suizid gefährdet ist.

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  5. Die Unsoziale schreibt:

    Wenn du jetzt noch den Link im Beitrag einfügst, bekommt Pharmama einen automatischen Trashback. 😉

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  6. Judi schreibt:

    Super geschrieben und vor allem hervorragend gehandelt. Es wäre sehr schön, wenn es noch mehr Menschen gäbe wie Dich!
    Ich habe gut sechs Jahre wochenends/feiertags und durchgehend in den Semesterferien in der Altenpflege gearbeitet (und diesen Job sehr geliebt – das war noch zu einer Zeit, wo man prozentual mehr Zeit für die Bewohner als für den Papierkram hatte:::). Wir waren immer sehr dankbar, wenn uns „abgängige“ Bewohner gebracht von Nachbarn etc. gebracht wurden – oft genug war es leider doch die Polizei, weil eben kein lieber Mensch da war, der die alte Dame, die in Hauspuschen und manchmal auch im Nachthemd umeinanderwanderte an die Hand nahm und sich kümmerte :-(. Zwar waren auch die Beamten sehr nett, aber für die alten Menschen war es immer ein großer Schreck, wenn die uniformierten Herren sie ins Polizeiauto gesetzt haben.

    Die Holländer haben es in dem „Dorf für Demenzkranke“ glaube ich damals erfunden. Auch wenn ich auch die Kritikpunkte nachvollziehen kann – ich finde die Idee gut => https://de.wikipedia.org/wiki/Scheinbushaltestelle

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  7. Mr. Gaunt schreibt:

    Gut geschaltet, die Gedankengänge der dementen alten Menschen sind auch sehr zutreffend beschrieben. Wahrscheinlich jeder der in der Altenpflege gearbeitet hat kennt solche Vorfälle. Bei mir war es zu meiner Zeit eher umgekehrt: Mir wurden an der Telefonzentrale im Altenheim draussen aufgesammelte demente Menschen vorbeigebracht, wohl in der Hoffnung dass sie bei uns „entlaufen“ waren. Hat gelegentlich auch gepasst, aber ein paar Fremde waren auch dabei die dann bei mir sassen und mit denen ich erst einmal nicht anfangen konnte.
    Den Tip mit dem eingenähten Namen in der Kleidung sollte sich jeder merken! Das macht in der Tat die Identifizierung sehr hilfreich. Wenn man den Namen hat, dann hilft auch eine Anfrage bei der örtlichen Polizei, da werden verlorengegangene demente Familienmitglieder meist schnell gemeldet.

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  8. Ulrike schreibt:

    Seit mein Vater in einem Alten- und Pflegeheim ist, passe ich auch viel besser auf als früher. Mein Vater ist nicht dement, aber seit einem Schlaganfall halbseitig gelähmt. in dem Heim gibt es aber auch reichlich Menschen, die mal vergessen, so sie hingehören. Hab nicht nur einmal in den letzten Jahren Leute, die im Schlafanzug und in Puschen draußen rumliefen, eingesammelt und im Heim abgegeben. 🙂
    Was mich immer wieder erschreckt, ist, dass viele der an Demenz erkrankten auch bösartig werden und sich vehement gegen das „Heimbringen“ wehren. Es gibt eine Bewohnerin in dem Heim, die immer wieder bei meinem Vater aufs Zimmer geht, weil sie meint, es sei ihres. Wenn man sie hinausweist, Pfleger ruft etc. dann schimpft sie mit Ausdrücken wie A…loch usw. Das macht einem das Helfen auch nicht gerade einfach. Und mein Vater mag es überhaupt nicht, wenn seine Ruhe gestört wird. In solchen Situationen kämpfe ich an zwei Fronten, die zickige Demente und mein zickiger, ärgerlicher Vater.
    Alles nicht so einfach!
    Ich bewundere jeden, der sich um Alte und Demente kümmert
    LG
    Ulrike

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    • Mr. Gaunt schreibt:

      Na wie würdest Du reagieren, wenn Du auf dem Weg zur Arbeit bist und eine wildfremde Person Dich an die Hand nimmt und sagt „kommen Sie mal mit wir gehen jetzt nach Hause“? Da würdest Du auch fuchsig werden, oder? Schliesslich wartet die Arbeit (alternativ: Die Wäsche muss zu Hause gemacht werden, das Kind versorgt,….)
      Es gibt eine Phase wo Demente merken, dass es bergab geht. Das ist für mich die traurigste Zeit. Viele versuchen es zu verheimlichen und kommen mit alten Routinen eine Weile ganz gut klar, dann rutschen Sie in andere Welten ab.
      In diesen Welten sind sie dann aber zu Hause und da ist alles konsistent. Du bist dann der plötzliche Störfaktor, auf den man natürlich wie jeder normale Mensch unwirsch reagiert.

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  9. Hermione schreibt:

    Sehr schön geschrieben, vielen Dank für deinen Artikel. Und natürlich auch großartig, dass du dich gekümmert hast und der armen Frau geholfen hast.
    Ich hab beruflich auch viel mit dementen Patienten zu tun, und es gibt ehrlich gesagt kaum etwas, das mir mehr Angst macht (also diese unterschwellige Angst, weil man sich immer fragt ob einen später (und wieviel später?) ein ähnliches Schicksal erwartet).

    Wenn wir Patienten aus dem Altenheim abholen, versuchen andere Bewohner oft, uns nach draußen zu folgen. Oft lassen die sich von uns mit unserer auffälligen, vertrauenserweckenden Dienstkleidung aber sofort an die Hand nehmen und wieder auf ihren Wohnbereich zurückbringen. Ein Glück! Die PflegerInnen auf den jeweiligen Bereichen sind auch immer ganz erleichtert, wenn wir mit dem entflohenen Schützling wieder durch die Tür spazieren.

    Gut, dass es vor vielen Altenheimen Fake-Bushaltestellen gibt.

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  10. Pingback: Jahresrückblick und Ausblick  | apothekentheater

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